44. Rinsecke und der Gottesdienst

In Rinsecke war es leicht, einen lebendigen und würdigen Gottesdienst zu feiern. Das lag zunächst daran, dass die Gruppen klein waren. Normalerweise fuhren 25 bis 30 Personen ins Wochenende. Die Feier der Messe war organisch in den Ablauf des Wochenendes eingebunden. Meist feierten wir am Samstagabend oder, wenn die Gruppe erst am Samstagmorgen angereist war, auch am Sonntagnachmittag am Ende des Treffens. Besonders lebendig ist die Erinnerung an die Gottesdienste, die wir mit Firmgruppen gefeiert haben. Aber die Beschreibung trifft auch auf viele andere Gruppen zu,  sowohl in Rinsecke als auch zu Hause. – Es gab in Rinsecke eine Kapelle, aber soweit ich mich erinnere, habe ich da nur ein einziges Mal mit einer Gruppe den Gottesdienst gehalten. Praktisch immer blieben wir zum Gottesdienst in dem großen Versammlungsraum über dem Pferdestall. Diese Entscheidung wurde nie intensiver diskutiert. Ich vermute, weil sie eigentlich nahe lag. Denn in diesem Raum spielte sich am ganzen Wochenende alles ab, was für die Arbeit mit der ganzen Gruppe wichtig war. Das begann schon mit der „Aufwärmrunde“ unmittelbar nach der Ankunft, in der wir versuchten, die schönen und schweren Erfahrungen der vergangenen Woche in den Blick zu nehmen und dabei „in Rinsecke anzukommen“. Bei Wochenenden mit Firmgruppen spielten wir zu Beginn das Spiel mit dem „Kaktus“, um die Namen aller Beteiligten kennenzulernen. Wenn wir im Laufe des Wochenendes in eine neue Thematik einstiegen, geschah das eigentlich immer mit einer Aktion für die gesamte Gruppe. Wenn wir uns bei einzelnen Arbeitsschritten in kleinen Gesprächsgruppen im ganzen Haus verteilten, kamen anschließend alle wieder zum „Plenumsgespräch“ zusammen. Und dann tauschten wir unsere Erfahrungen und Erkenntnisse aus, die wir in den Kleingruppen miteinander gemacht hatten. Die Luft in dem Raum war also gewissermaßen erfüllt von unseren Empfindungen, Gedanken und Gesprächen.

Und wenn man den Wunsch hat, dass der Gottesdienst vom Leben der Beteiligten erfüllt ist, dann war es eigentlich selbstverständlich, dass wir in diesem Raum auch die Messe feierten. Wir saßen, wie bei den Plenumsgesprächen, in der großen Runde. Im Haus fanden wir immer einen kleinen Tisch, um die Gaben darauf zu stellen. Die „Jugendliederbücher“ hatten wir immer dabei. Und die Aufforderung, Musikinstrumente mitzubringen, stand immer auf dem Informationsblatt, das die Teilnehmer vor dem Wochenende bekamen. Natürlich gab es auch die Stillen, die eher hörend oder nachdenklich mitfeierten. Aber die Zahl derer, die aktiv ihren Beitrag zum Vollzug leisteten, war sicher größer als in den Gemeindemessen zu Hause. Und so erfüllten wir die Aufforderung der Liturgiereform des Konzils, dass möglichst viele sich lebendig und tätig an der Feier beteiligen sollten („actuosa partcipatio“). – Zur Vorbereitung eines solchen Gottesdienstes gehört es selbstverständlich, dass jemand die Lieder aussucht, einer oder eine Gruppe die Fürbitten formuliert, einige den Raum vorbereiten und vielleicht schmücken. Lesung und Evangelium suchte meist der Geistliche aus, der den Gottesdienst mit der Gruppe feierte. Und wenn uns der Ablauf und die Schwierigkeiten und die Erkenntnisse des Wochenendes präsent waren, ergab sich manchmal wie von selbst der biblische Text, der in den Fragen und Überlegungen des Treffens Antwort oder Wegweisung sein konnte. Wegweisung aus der Botschaft Jesu für das persönliche und gemeinsame Leben! – Der Gottesdienst in Rinsecke war meist schlicht und gesammelt. Selten war es nötig, noch viele Worte zu machen, nachdem wir die ganze Zeit schon miteinander im Gespräch waren. Ab und zu machten wir zwar auch ein Gruppengespräch als Form der Predigt. Aber meist genügten ein paar kurze Ausführungen – am Beginn oder nach dem Evangelium –, um die Situation der Gruppe und die Botschaft miteinander in Einklang zu bringen. Die Eucharistie feierten wir normalerweise unter beiden Gestalten, wobei Hostienschale und Kelch von einem zum anderen weitergereicht wurden. Wer nicht teilnehmen wollte, gab sie einfach an seinen Nachbarn weiter. Diese Freiheit des Einzelnen war uns sehr wichtig. Keiner sollte sich gezwungen fühlen oder einfach nur mitmachen, weil die anderen es auch taten. Vor allem bei den Firmgruppen waren manche Jugendliche in der Situation, ihren Weg in oder mit der Kirche neu zu finden. Und wir haben sie dabei ermutigt, sich nicht anzupassen, sondern in eigener Verantwortung zu entscheiden. 

 

Was bei einer solchen Form des Gottesdienstes eigentlich geschieht, ist natürlich nicht nachweisbar. Wenn man daran glaubt, dass es um eine Begegnung zwischen Gott und den Menschen geht und um eine Begegnung zwischen glaubenden Menschen, dann sagt man damit automatisch, dass dieses Eigentliche sich der Beweisbarkeit grundsätzlich entzieht. Die Theologen nennen es ein „Mysterium“, von dem man nur analog sprechen kann. In allem, was man sagt, kann sich eine Spur des Geheimnisses enthüllen, aber mit keinem Wort bekommt man es „zu packen“. Unter diesem Vorbehalt steht dann auch der Versuch, das Geschehen im Gottesdienst unter dem Bild der Begegnung zu beschreiben. Wenn man das, was Jesus im Abendmahlssaal getan hat, so versteht, dann geht es nicht in erster Linie um die äußere Form oder die Historie, sondern um das innere Geschehen. Und das müssen wir nachvollziehen, wenn wir heute Gottesdienst feiern. Wenn wir also in Rinsecke zusammengesessen haben, dann haben wir eine Begegnung gefeiert. Jesus Christus ist in unserer Mitte, nicht fassbar und doch real. Wenn wir die Erzählungen über sein Leben gehört haben (im Wortgottesdienst), dann ist er da wie damals, als er Menschen zum Leben verhalf, ihnen Hoffnung und Zuversicht gab und sie etwas spüren ließ von der heilenden Nähe des Vaters. Er ist da, wie er gegen die Macht der Bosheit und menschlicher Schwäche Vertrauen und Liebe gelebt hat bis zur Hingabe seines Lebens. Und er ist da als der wirklich Lebendige, der auch heute uns anschaut, zu uns spricht und uns heilen will. Weil er da ist, braucht er auch keinen Stellvertreter, der in der Feier die „Rolle“ des abwesenden Herrn übernimmt. – Und wir sind da mit unserer Vergangenheit (der letzten Woche oder des ganzen Lebens), mit den Erfahrungen von Gottesnähe und Gottesferne, mit unseren Bedürfnissen, Nöten und Hoffnungen, mit dem Schönen und Schweren, das unser Leben prägt. Da wir in Rinsecke immer in einem intensiven Austausch miteinander waren, konnte der Gottesdienst auch eine Feier der Begegnung untereinander sein. Wir erfuhren uns nicht als voneinander geschiedenen Einzelmenschen, sondern als Gemeinschaft. Wir waren das, was die junge Kirche von ihrer Versammlung im Gottesdienst glaubte: Corpus Christi Verum – der wahre Leib Christi. (dazu ausführlicher unter „Wie hilft man sich bei Priestermangel“). Das haben wir damals natürlich so nicht formuliert und sicher oft auch nur ansatzweise oder gar nicht vollzogen. Aber wir haben immer wieder eine erfüllte Atmosphäre erlebt. Und die war mitbedingt durch unser Bemühen, unseren Glauben zu leben.

 

Eine vergleichbare Atmosphäre stellte sich oft auch in den Gemeindemessen ein, nicht immer und auch nicht nach unseren Wünschen. Der Geist weht ja bekanntlich, wo er will. Wenn es aber geschah, dann hatte es auch etwas mit unserer Vorbereitung zu tun. Es war wie in Rinsecke. Wenn wir miteinander im Gespräch waren, unsere Gedanken und Erfahrungen ausgetauscht hatten, wenn wir uns um eine Antwort im Glauben oder nur um ein lebendiges Verständnis der Botschaft Jesu bemüht hatten, dann waren die Voraussetzungen günstig für eine intensive Feier der Begegnung. Dafür ist es unverzichtbar, dass die Gemeinde an vielen Stellen miteinander im Gespräch ist. Sie muss eine Chance haben, Leben und Glauben miteinander zu teilen. Und solche Gespräche können eine Vorbereitung sein für die Feier der Begegnung im Gottesdienst. Sie können aber auch selbst schon eine Chance sein, diese Begegnung zu erleben.

Dafür war es offensichtlich hilfreich, dass in der Konzeption unserer Seelsorge die Gruppe eine so wichtige Rolle spielte. Die begrenzte Zahl von Teilnehmern ist eine Voraussetzung dafür, dass ein wirkliches Gespräch stattfinden kann. Dann muss man allerdings das Gespräch wirklich wollen und nicht die Leute zu Empfängern von Arbeitsmaterial, Anweisungen und guten Ratschlägen degradieren. Nur wenn die Lebenssituation und die Glaubenserfahrungen aller Teilnehmer wichtiger sind als das Wissen und die Beredsamkeit eines „Experten“ , kann es zu einem gemeinsamen Suchen und zu einem Austausch von Glauben und Leben kommen. Und wenn es dabei in zunehmendem Maß um die Botschaft Jesu und um das Kommen seines Reiches geht, dann kann schon in einem solchen Gespräch eine Begegnung mit ihm und untereinander stattfinden (ohne fromme Gefühle oder fromme Sprüche). Und diese Begegnung kann sich dann im Gottesdienst fortsetzen und intensivieren. Eine solche Gesprächsfähigkeit kann man nicht einfach voraussetzen, erst recht nicht bei Gläubigen, von denen man jahrhundertelang nur „Gehorsam“ und Anpassung erwartet hat. Aber auch hier gilt vermutlich die biblische Verheißung: „Dein Glaube hat dir geholfen“. Wer es nicht für möglich hält, wird es nicht praktizieren können. Und dann braucht es nicht zu überraschen, dass die Feier des Gottesdienstes in erster Linie als Vollzug von Ritualen oder liturgischen Vorschriften oder als persönliche Frömmigkeitsübung missverstanden wird. – Ein praktisches Beispiel für unsere Bemühungen wurde schon erwähnt. Eine Gruppe, die Kindergottesdienste vorbereitete, traf sich jeweils zwei Mal. Beim ersten Treffen versuchten die Teilnehmer, den biblischen Text zu verstehen und in ihre eigene Lebenserfahrung zu übersetzen. Das war die Voraussetzung, um es kindgerecht vermitteln zu können. Aber es war auch ein Versuch, miteinander im Glauben zu wachsen. Und was man selbst erlebt oder verstanden hat, kann man dann auch in Inhalt und Ablauf des Gesprächs mit den Kindern übersetzen. Darum kümmerte sich in diesem Kreis dann eine kleinere Gruppe bei einem zweiten Treffen. – Es gab auch misslungene Versuche. Über viele Jahre und in mehreren Anläufen haben wir versucht, einen Kreis zusammenzubekommen, der die Texte des Sonntags  miteinander besprechen sollte. Die Gemeinde hat dieses Angebot nie wirklich angenommen. Als Grund wurde manchmal gesagt, dass freitags am frühen Abend dafür keine gute Zeit sei. Mir selbst haben diese Gespräche im ganz kleinen Kreis einen besseren Zugang zum Evangelium erschlossen. – Auch die musikalische Vorbereitung des Gottesdienstes durch Chor, Combo oder vielleicht sogar Orchester könnte eine Möglichkeit sein, Glauben und Leben zu teilen und dadurch zu einer Feier der Begegnung beizutragen. Doch scheint es oft schwer zu sein, das musikalische Erlebnis gleichzeitig als eine Begegnung im Glauben zu erfahren. Vielleicht könnte man damit eher rechnen, wenn die Chorarbeit auch zu einem vertieften Verständnis der Texte genutzt würde. Das gibt es aber anscheinend in der Praxis nur selten. – Viele Möglichkeiten, Glauben und Leben miteinander zu teilen, ergaben sich auch in der Gemeindekatechese. In den Treffen der Begleiter haben wir immer wieder zu verwirklichen versucht, was oben über das Gespräch in der Gruppe beschrieben ist. Aber auch die Gruppen der Kinder und Jugendlichen bei Erstkommunion, Buße und Firmung verwirklichten immer wieder etwas von diesem Ideal. Die Teilnehmer sollen ja nicht ein Lernpensum absolvieren, sondern im Austausch miteinander soll der Glaube und die Freude am Leben wachsen. Wenn eine Gruppe sich in dieser Weise findet, kann die gottesdienstliche Feier am Schluss zu einer wirklichen Feier der Begegnung werden. Auch manche Firmgottesdienste haben wir erlebt, in denen sichtbar wurde, wie sehr die einzelnen Gruppen eine Gemeinschaft geworden waren. Die innere Verbundenheit zeigte sich zum Beispiel immer wieder daran, dass einzelne Jugendliche den Wunsch hatten, ein anderes Gruppenmitglied solle die Patenschaft für sie übernehmen. Dazu musste dann die Reihenfolge des Empfangs der Firmung festgelegt werden, damit der vorgesehene Pate auch vor seinem „Patenkind“ gefirmt wurde. Und wenn einer aus der Gruppe sich entschieden hatte, sich nicht firmen zu lassen, wurde er gerade dann liebevoll in die Mitte genommen. Und wenn man den Einen oder Anderen während des Firmgottesdienstes anschaute, dann war manch schöne Erfahrung aus der Vorbereitungszeit oder manch klärendes Gespräch wieder ganz gegenwärtig. Oft war auch das Wochenende in Rinsecke wieder lebendig mit seinen intensiven Begegnungen. Wer in diesem Gottesdienst mit offenem Herzen dabei war, konnte die Atmosphäre der Glaubensgemeinschaft spüren.

 

Wenn alle Gruppen in der Gemeinde an den Auftrag glauben, intensiv Leben und Glauben miteinander zu teilen, werden sie zunehmend zu einer Gemeinschaft im Geiste Jesu. Dann sitzen und beten nicht mehr abgeschottete Individualisten im Gottesdienst nebeneinander, sondern die Feiernden sind wirklich ein Stückchen „ein Herz und eine Seele“. Der Glaube bewährt sich in der Liebe, in der Gemeinsamkeit. Das kann nicht wie auf Knopfdruck plötzlich da sein. Es muss vielmehr wachsen nach dem Maß der Bemühung um Glauben und Leben. Ein Prozess, bei dem wir uns immer irgendwo zwischen toter Masse und liebender Gemeinschaft bewegen. Und je nach Bemühung wachsen wir oder fallen zurück.

 

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