43. Rinsecke

Das Haus. Rinsecke ist ein kleiner Ort im Sauerland, ein wenig abseits der Straße von Kirchhundem nach Oberhundem. Dort hatte die Franziskus-Gemeinde aus Hochdahl über viele Jahre so etwas wie eine zweite Heimat. Ein alter Bauernhof war umgebaut und für Gruppen und Familien eingerichtet worden. Er gehörte den Angestellten der Steyler Missionare von St.Augustin. Um einen offenen Hof mit einem großen, alten Baum in der Mitte gruppierten sich hufeisenförmig drei Flügel. Wenn man von der Straße kam, ging oder fuhr man genau auf das Haupthaus zu, wohl das ehemalige Wohnhaus der Familie des Bauern. Auf der linken Seite hatte man dann den so genannten Pferdestall, der im Erdgeschoss zwei Gruppenräume und im Obergeschoss einen großen Versammlungsraum hatte. Rechts war ein kleinerer Trakt, den wir in seltenen Fällen mitbenutzt haben, der aber normalerweise von anderen Gästen belegt war. Betrat man das Haupthaus, dann war links das Büro von Frau Otte. Sie war für die Verwaltung des Hauses zuständig. Dahinter war die große Küche, in der man ohne Probleme mit einem Dutzend Leute gleichzeitig arbeiten konnte. Der große Herd war der Mittelpunkt, um den herum die Leute, die Arbeit und die Gespräche rotierten. Die Ausstattung war gut; Töpfe, Geschirr und Besteck waren immer ausreichend vorhanden, auch wenn wir mit bis zu dreißig Teilnehmern anreisten. Es lag demnach nicht an begrenzten Möglichkeiten des Hauses, wenn ich bei einem Wochenende mit Firmgruppen bemängelte, dass ich aus einer Tasse ohne Untertasse trinken sollte. Natürlich wurde dem Umstand sofort abgeholfen und beim nächsten Geburtstag bekam ich von einigen Beteiligten einen „Cultural Pack“. Für besondere Ansprüche gibt es ja immer einen besonderen Service. Vielleicht ist aus diesen Hinweisen schon erkennbar, dass es sich bei dem Haus in Rinsecke um ein so genanntes „Selbstversorgerhaus“ handelte. Wir mussten vom Zimmer-Verteilen über Kochen, Tischdecken, Spülen und Reinigung für alles selber sorgen. Gegenüber von Küche und Büro gab es zwei große Zimmer, die ineinander übergingen und die wir für die Mahlzeiten (und oft auch für Gruppengespräche) nutzten. Dazu stellten wir dann die Einzeltische zu einer langen Tafel zusammen, um die Zusammengehörigkeit der Gruppe zu verdeutlichen. Im ersten und zweiten Stock des Hauses wurden die Teilnehmer untergebracht, in Zimmern mit zwei oder drei oder sechs Betten. Den Luxus eines Einzelzimmers gab es nur für zwei (privilegierte oder besonders schnelle) Personen. Dieses Haus ist uns im Laufe der Jahre sehr wichtig geworden. Und wenn wir am Freitagabend oder – mit Firmgruppen – am Samstagmorgen von Hochdahl losfuhren, stellte sich sehr oft von Anfang an eine ganz besondere Stimmung ein.

 

Unsere Aktivitäten in Rinsecke. Wenn Frau Otte, die von 1984 bis 2000 das Haus geleitet hat, am Anfang eines neuen Jahres bei uns anfragte, welche Wochenenden oder Ferienwochen wir reservieren wollten, dann kamen – nach Auskunft von Frau Otte – immer  16 bis 18 Termine zusammen. Und da wir so oft da waren, wurden wir bei der Buchung auch mit Vorrang behandelt. Im Laufe der vielen Jahre stellte sich zwischen ihr und uns ein gutes Vertrauensverhältnis ein. Und dann konnten wir auch verkraften, wenn sie uns hin und wieder deutlich zur Ordnung rief. Wenn im Winter einige Bewohner vergaßen, nach dem morgendlichen Lüften die Fenster zu schließen, dann folgte unweigerlich die Drohung, sie würde die Heizung abstellen, wenn wir weiter so verantwortungslos mit der Energie umgingen. Wenn wir andererseits Fragen oder Wünsche oder Probleme hatten, konnten wir uns immer auf ihre Hilfe verlassen. – Angefangen hat unsere Beziehung nach Rinsecke etwas bescheidener. 1972 fuhr Gerd Verhoeven zum ersten Mal mit Schülern seines Religionskurses im Gymnasium dorthin. Und zunächst waren das nur einzelne Unternehmungen. Irgendwann schlossen sich dann Gruppen der Gemeinde an. Und die Beliebtheit des Hauses und die Zahl der Fahrten nahmen zu. Eine besondere Bedeutung hatte Rinsecke natürlich in den Arbeitsbereichen, die auch in der Gemeinde im Vordergrund standen. Die Katecheten von Kommunionvorbereitung und Buße und die Begleiter der Firmvorbereitung fuhren nach Rinsecke, um sich auf ihre Arbeit in den Gruppen vorzubereiten. Die Jugendlichen, die am Firmkurs teilnahmen, waren immer Anfang des Jahres dort. Dafür waren zwei oder drei Wochenenden reserviert. Meist fiel am Ende dieser Tage auch die Entscheidung, ob sie sich firmen lassen wollten oder nicht. Auch der Arbeitskreis Taufgespräche war regelmäßig einmal im Jahr in Rinsecke. Dabei fuhren dann oft auch die Ehepartner und Kinder der Mitglieder des Arbeitskreises mit, sodass sich die Gespräche über die Taufvorbereitung in einer Atmosphäre familiärer Gemeinsamkeit vollzogen. Auch die vielfältigen Hochdahler Überlegungen zum Aufbau der Kirchengemeinde in der neuen Stadt wurden in Rinsecke fortgesetzt. Der Pfarrgemeinderat war jedes Jahr an einem Wochenende da. Ebenso regelmäßig kamen der Kontaktdienst, die Capella nova und immer wieder einmal auch der aus dem Jugendchor hervorgegangene Projektchor. Viele Familien verlebten mit Kind und Kegel schöne Ferienwochen (meist in den Herbstferien) in Rinsecke und sorgten so dafür, dass auch Vergnügen und Erholung zu ihrem Recht kamen. – Wir hatten normalerweise bei den Wochenenden keine „Referenten“ von auswärts. Wir bereiteten die Themen und Arbeitsabläufe selber vor. Wenn es zum Beispiel um die Gemeindekatechese ging, konnten wir ja nur selber wissen, an welcher Stelle das Treffen in Rinsecke für die Begleiter inhaltlich stand, wie es in den zeitlichen Ablauf eingepasst war und welche Folgerungen es für die weitere Arbeit in der Gemeinde haben musste. Und auch für den Pfarrgemeinderat ergab sich die Thematik in Rinsecke immer aus den Überlegungen und Erfahrungen der Arbeit in der Gemeinde und die Erkenntnisse und Ergebnisse hatten auch nur Sinn, wenn sie in die Gemeinde zurückwirkten. Diese enge Bindung zwischen Rinsecke und unserem Leben in Hochdahl ist wohl der eigentliche Grund für die große Bedeutung, die Rinsecke für uns hatte. Der Aufenthalt dort war zwar auch eine „Auszeit“, weil wir eben auswärts waren, aber die war ganz erfüllt von dem Leben zu Hause. Und wer häufiger hinfuhr, kam nicht in eine fremde Umgebung und erst recht nicht in ein Hotel. Man brauchte nicht mehr als eine halbe Stunde, um sich zu Hause zu fühlen; so jedenfalls erzählte es dieser Tage einer der regelmäßigen Besucher. Die rustikale und bodenständige Einrichtung und Ausgestaltung des Hauses war für diese Empfindung sehr hilfreich.

 

Einige Erfahrungen  können vielleicht behilflich sein, etwas von der Atmosphäre in Rinsecke zu erahnen. – Wenn wir ein Wochenende mit Firmbegleitern hatten, mussten wir am Freitagabend einen Einstieg in die Arbeit finden. Es musste den Teilnehmern möglich werden, aus der vielleicht anstrengenden oder hektischen Woche „in Rinsecke anzukommen“. Die große Gruppe teilte sich in mehrere Kleingruppen auf. In stiller Eigenbeschäftigung versuchten sich die Einzelnen über angenehme und belastende Erfahrungen, die sie mitbrachten, klar zu werden. Für beides suchten sie dann einen Gegenstand, der als Symbol für die Erfahrungen dienen konnte. Diese Symbole knüpften die vier bis sechs Teilnehmer

dann zu einem Mobile zusammen. Im nächsten Schritt wurde aus den drei, vier oder fünf Teilmobiles dann ein gemeinsames Mobile. So etwas haben wir mehrmals gemacht. Faszinierend war vor allem die letzte Phase, weil man meist eine staunenswerte Aufmerksamkeit und Behutsamkeit feststellen konnte. Und oft wurden die Einzelnen während des Abends heiterer und gelassener und auch die Stimmung untereinander wurde positiver. Ein Vorgang, wie Befreiung in Gemeinschaft stattfinden kann! Oft hatte die Atmosphäre am anderen Morgen noch etwas von diesem „Ankommen“. – Ich erinnere mich an ein Treffen mit dem Pfarrgemeinderat. Es ging um unser Bild von Gemeinde auf  dem Hintergrund der vielen Gruppierungen in Hochdahl. Wir sammelten, was es an solchen Gruppierungen gab und malten alle mit Kreisen oder Flächen auf ein großes Plakat. Das war natürlich einfach. Aber wie verhalten sich die verschiedenen Gruppen zueinander? Gibt es ein differenziertes Bild von Gemeinde? Das wurde sehr schwierig. Einerseits wollten wir nicht einfach ein großes Seil um alle schlingen und sie auch nicht undifferenziert in einen Sack stecken. Wir waren aber auch nicht mit dem hierarchischen Bild einverstanden, das alle von oben nach unten sortiert, wobei der Papst oder der Klerus auf alle anderen herabschauen. Ich weiß nicht mehr, wie wir das Problem gelöst haben. Aber ich erinnere mich an ein sehr intensives Gespräch mit einer Menge Einsichten. – Bei einem Wochenende mit Firmgruppen hatten wir als Begleiter Unsicherheit und Angst, ob die Jugendlichen den vorgesehenen Einstieg in ein Thema mitmachen würden. Wir planten, mit einem Tanz in der großen Gruppe zu beginnen. Aber offensichtlich war die kritische Phase der ersten Jahre inzwischen vorbei. Keiner machte Schwierigkeiten. Das war nicht selbstverständlich, aber erleichternd. Später wurden die irischen Volkstänze, die Heiner Schuster mitbrachte, von allen freudig begrüßt. – Auch verschiedene äußere Umstände trugen zu der guten Stimmung in Rinsecke bei. Normalerweise fuhren wir mit den privaten Autos der Teilnehmer ins Sauerland. Und unterwegs gab es schon gute Gespräche oder heitere Vorkommnisse. Besonders nachhaltig hat sich der Erinnerung eingeprägt, dass im Winter die Fahrt durch den Schnee nicht immer ungefährlich war und die Frage auftauchte, wie der R4 denn bei den Verhältnissen mit vier Personen und Gepäck den Berg hinauf kommt. Und in einem besonders winterlichen Jahr blieben einige Autos kurz vor der Ankunft im Berg stecken. Das hatte unter anderem zur Folge, dass die eingekauften Lebensmittel geschleppt werden mussten. – Besonders wertvoll war, dass wir uns selbst versorgen mussten. Zwei oder drei Teilnehmer kauften in Hochdahl ein und jemand war in Rinsecke für die Zubereitung des Essens verantwortlich. Daneben aber gab es eine ganze Menge von Aufgaben, um die sich alle Beteiligten kümmern mussten: Hilfsdienste in der Küche, Tischdecken, Abräumen und Spülen. Und wie haben wir erreicht, dass das alles auch getan wurde? Bei einer Gruppe von Erwachsenen war das nie ein Problem. Bei Jugendlichen haben wir die Aufgabe als Training benutzt, etwas füreinander zu tun. Ein guter Organisator meinte manchmal, ein genauer Plan müsse erstellt werden, damit die Dienste gerecht und vor allem wirksam verteilt würden. Dagegen haben wir uns immer gewehrt. Nach der Ankunft haben wir eindrücklich darauf hingewiesen, dass keine Mutter oder Kellnerin ihnen die Sachen hinterhertragen würde. Sie müssten also die Augen aufmachen und erkennen, wo sie gebraucht würden. Und wenn zwischendurch ein Engpass zu entstehen schien, haben wir diese Aufforderung noch einmal wiederholt. Und maulendes Gerede „ich hab’ aber schon …“ haben wir einfach überhört. Normalerweise hat das ohne große Reibereien geklappt. Und oft haben Leute erkannt, dass solch gemeinsames Bemühen auch noch Spaß machen kann. – Ein andere Chance des „Selbstversorgerhauses“ war die Küche. Bis heute wird – fast mit leuchtenden Augen – davon erzählt, wie gut und intensiv die Gespräche waren, wenn acht oder zehn oder zwölf Leute in der Küche gemeinsam mit der Vorbereitung des Essens beschäftigt waren. Und es scheint wirklich möglich zu sein, beim Gemüseputzen und Kartoffelschälen die Ergebnisse der vorherigen Arbeitsrunde oder auch persönliche Lebensumstände miteinander auszutauschen. Ähnlich erfreulich konnten die Gespräche in gemütlicher Runde nach dem Abendessen sein (die sich manchmal bis tief in die Nacht hinein fortsetzten) und viele erzählen bis heute von Nachtwanderungen und Geisterbeschwörungen.

 

„Der Geist von Rinsecke“. Irgendwann im Laufe der Jahre tauchte dieser Spruch auf. Wer ihn zum ersten Mal benutzt hat und was bei ihm dahinter stand, ist nicht mehr festzustellen. Aber die ihn im Laufe der Zeit immer häufiger benutzten, schienen damit Erfahrungen zu verbinden, die sie als wertvoll und hilfreich und intensiv erlebt hatten. Und anscheinend hatten wir die Vorstellung, in Rinsecke könne man so etwas Wichtiges und Wertvolles immer wieder erleben. Hatte sich dieser gute Geist vielleicht in den Räumen dort eingenistet? Der Informierte weiß natürlich, dass der Geist weht, wo er will. Aber dann war es  trotzdem eigenartig, dass er besonders häufig in Rinsecke zu wehen schien. Das war also ausgesprochen geheimnisvoll. – In der Erinnerung ist es natürlich möglich zu beschreiben, was uns damals so gut und wertvoll erschien. Da war vor allem die Atmosphäre in den Gesprächen. Wie im Leben der Gemeinde, so war uns auch in Rinsecke das Gespräch die wichtigste Form der Arbeit. Manchmal geriet der eine oder andere auch schon einmal in das alte Gleis von Diskussion und Rechthaberei. Normalerweise war es aber ein vertrauensvoller Austausch. Suchen und fragen, zuhören und das Eigene dazu geben – so könnte man diese Atmosphäre charakterisieren. Und mit viel Geduld haben wir oft nach den Lösungen gesucht. Selten sind wir in Hektik verfallen, weil wir meinten, schnelle und endgültige Antworten zu brauchen. – Auf dem Weg zur Erkenntnis haben wir nicht nur den Verstand strapaziert. Im Laufe der Jahre sammelte sich ein großes Repertoire von spielerischen und lebensnahen Einstiegen und Arbeitsweisen an – mit Malen und Konstruieren, Musik und Tanz, Literatur und „Theater“. Und Manches, was wir dabei und dadurch erlebten, war erhellend oder sogar beglückend. – Ein wichtiger Schlüssel zu positiven Erfahrungen war wohl auch die Bereitschaft, sich den Fragen des eigenen Lebens und des Glaubens und der Gemeinde zu stellen. Das Evangelium und der Glaube waren nie frommes Gerede, sondern – wenn auch mit Schwierigkeiten – Quelle von Erkenntnis und Hoffnung. Wir sind davon ausgegangen, dass wir aus der Botschaft Jesu Antworten für unser Leben ableiten konnten. Und vielleicht steht darauf wirklich die Verheißung: dein Glaube hat dir geholfen. – Und sehr oft haben wir eine gute Gemeinschaft erlebt. Sie hat sich vollzogen und ist entstanden sowohl in den Gesprächen in den Arbeitsgruppen als auch in der Küche als auch bei Hin- und Rückfahrt. – Und wir glaubten und hielten daran fest, dass solche Erfahrungen nur möglich sind, wenn Menschen in Vertrauen und Freiheit einander begegnen. Und sie kommen selbst darauf, sich füreinander einzusetzen, wenn man sie nicht dauernd in feste Regeln, Pläne und Vorschriften einspannt. – Viele dieser Bemühungen und Überzeugungen waren gegenwärtig, wenn wir miteinander Gottesdienst gefeiert haben. Dazu blieben wir immer in dem Raum, wo wir uns auch sonst aufhielten. Und die Themen, Fragen und Antworten, die Schwierigkeiten und Ungereimtheiten, hatten im Ablauf der Messe ihren Platz.

 

Das Ende. Leider ging unsere Zeit mit Rinsecke im Jahr 2000 zu Ende. Zu diesem Zeitpunkt war nicht mehr zu übersehen, dass das Haus nicht den Vorschriften des Brandschutzes entsprach. Es hieß, das zu beheben sei sehr teuer, und deswegen wurde das Haus zum Verkauf gestellt. Wir haben in Hochdahl damals ernsthaft überlegt, ob wir das Haus nicht übernehmen sollten, aber das hätte wohl doch unsere Möglichkeiten überstiegen. Wir haben Rinsecke nachgetrauert. Und wo wir dann hingefahren sind – hierhin und dorthin – war es manchmal auch ganz nett, aber es war nicht mehr Rinsecke.  

 

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