35. Beseelen statt befehlen

Auch dieses Motto haben wir nicht selber erfunden. „Beseelen statt befehlen“ war der Titel eines Buches, das 1958 in deutscher Übersetzung erschienen ist und die Arbeit der CAJ, der Christlichen Arbeiterjugend, reflektierte. Dabei ging es konkret darum, in welchem Stil und mit welcher Mentalität die Priester im Bereich der CAJ mit den jugendlichen Mitgliedern der Gruppen arbeiten sollten. Der deutsche Titel war keine Wiedergabe des französischen Originals. Aber diese prägnante und treffende Formulierung hatte es uns auf Anhieb angetan. Ich habe das Buch nie gelesen und wir haben über das Motto auch nie ausführlicher diskutiert. Wir haben den Titel übernommen und ihm dabei vermutlich den Inhalt gegeben, der uns wichtig war.

 

„Beseelen statt befehlen“ sind offensichtlich zwei Verhaltensweisen, wie man eine Leitungsfunktion wahrnehmen kann. Und ob es sich um eine Gruppe, eine Organisation oder eine Gemeinde handelt, an vielen Stellen wird per Befehl oder Anordnung geleitet. Als wir schon im Theologiestudium weit fortgeschritten waren, mussten wir bei Eingaben an das „Hochwürdigste Erzbischöfliche Generalvikariat“ noch mit „Gehorsamst“ unterschreiben. Und bis auf den heutigen Tag sind viele Gemeinden unverkennbar autoritäre Gebilde. Solche Erfahrungen machen mir aus der heutigen Sicht verständlich, was uns an dem „Beseelen“ so angesprochen hat.

 

In der Einzelseelsorge ist das, was mit dem Motto gemeint ist, schon immer praktiziert worden. Und für viele Priester war es ein wichtiger und geschätzter Bereich ihres Bemühens  – ob als Beichtvater oder „Seelenführer“ oder väterlicher Freund. Wenn noch nach dem Krieg vor den großen Festtagen sich lange Schlangen vor den Beichtstühlen bildeten, dann war es vielleicht nur in Einzelfällen möglich, auf die Menschen ausführlicher und persönlicher einzugehen. Vieles wird bei dieser Praxis formalisiert und routiniert abgelaufen sein. Aber es war immer klar und wurde oft auch ausdrücklich angeboten, dass man um ein eingehendes Gespräch bitten konnte, wenn man religiös oder moralisch in einer schwierigen Situation war. Ein solcher intensiverer Austausch war auch möglich, wenn jemand nicht bei den alltäglichen Verrichtungen stehen bleiben wollte, sondern einen Weg zu einem vertieften Glauben suchte. – Ob es dabei nun um ein Beichtgespräch mit Einschluss von Bekenntnis und Absolution oder eine einfache Beratung geht, die Rollenverteilung ist zunächst eindeutig. Der „Suchende“ – wenn man ihn so nennen will – kommt mit seiner Lebenssituation, seinem Bemühen und seinem Versagen zum Priester, der versucht, sich in die Situation hineinzuversetzen, zu raten und zu helfen. Wenn man den Vorgang analysieren will, ist entscheidend, wie weit es dem Suchenden gelingt, sein Leben durchsichtig werden zu lassen. Wie erlebt er seine Beziehung zu Gott, welche Bedingungen sind ihm vorgegeben, welche Wünsche treiben ihn um, wo erlebt er Versagen und Scheitern. Dabei geht es sowohl um einfaches Erzählen als auch um den Versuch einer Deutung. Der „Leitende“ kann durch kluges und einfühlendes Fragen helfen. Je transparenter das Leben wird, umso eher kann geschehen, was mit „beseelen“ gemeint ist. Der „Seelenführer“ gibt nicht – gewissermaßen von außen – irgendwelche Anweisungen, guten Ratschläge oder fachmännische Einsichten. Seine Erfahrung als Glaubender wird ihn in den Schilderungen erkennen lassen, wo sich Lösungen oder nächste Schritte für den „Suchenden“ andeuten. Und dann wird es ein gemeinsames Erkennen geben, bei dem die zunächst eindeutige Rollenverteilung gar nicht mehr so eindeutig ist. Im gemeinsamen Tun wird den beiden vielleicht die verborgene Weisung Gottes erkennbar. Und auch wenn die Beteiligung des „Leitenden“ klar ist – so dass man von einer wirklichen „Leitung“ sprechen kann – so wird es doch keine Leistung sein, auf die sich der „Seelenführer“ etwas einbilden könnte. Er hat beigetragen zum inneren, seelischen Wachstumsprozess des „Suchenden“. 

 

Wir waren von dem Motto „Beseelen statt befehlen“ deshalb so angetan, weil wir es als einen Impuls für die Leitung einer ganzen Gemeinde ansahen. Wir wollten die Gemeinde führen durch Weisung, Deutung und Rat für das innere, geistliche Leben der Menschen. Auch bei diesem Vorgang wird das Gespräch der wichtigste Weg sein. Dabei kann es nicht auf die Zahl der Gespräche ankommen. Nicht die Summierung von Einzelgesprächen führt zum Ziel, abgesehen davon, dass bei einem solchen Versuch sehr schnell die Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit erreicht werden. Im Laufe der Zeit kann sich in einer Gemeinde eine „Gesprächskultur“ entwickeln. Man lernt, dass man nicht nur über die Erfahrungen im Urlaub,  den letzten Ärger in der Familie oder die Kirchenpolitik sprechen kann. Wenn die eigene Lebenssituation zur Debatte stehen darf mit allen Unsicherheiten, Wünschen und  Hoffnungen, dann ist „beseelen“ möglich. Und dann kann das zur Gabe und Aufgabe vieler in der Gemeinde werden. Der Leiter oder die Leiter der Gemeinde müssen nur eindeutig dazu stehen, dass solche Gespräche zum Zentrum des gemeinsamen Lebens gehören. – Eine Gemeinde „beseelen“ kann sich auch in der Predigt vollziehen. Auch hier ist die Voraussetzung, dass die Lebenssituation der Menschen zur Debatte stehen darf und dass der Prediger dazu in der Lage ist. Manches wird er in Gesprächen und Diskussionen erfahren können. Manches wird er mit einem offenen Blick wahrnehmen. Und vielfach wird die eigene Lebenssituation mit der der Hörer übereinstimmen. Er ist also nicht auf die reine Spekulation angewiesen. Und in der Predigt muss die eigene Lebenssituation transparent werden – in einer Art und Weise, dass sich die Hörer selbst darin wiederfinden. Das muss natürlich mit aller Diskretion geschehen. Dann erleben sich alle – Prediger und Hörer – gemeinsam als Suchende. Und in der Auslegung der Botschaft kann etwas von der reinigenden und heilenden Kraft des Wortes Gottes erfahrbar werden.

 

In Hochdahl hat das „beseelen“ sich vor allem in der Gruppenarbeit vollzogen. Davon war in der Beschreibung der Arbeit mit den Katecheten der Sakramentenvorbereitung schon die Rede. Wir wollten ja nie, dass die Katecheten die Stunde für die Kinder oder die Jugendlichen nur „abspulten“ (was bei Jugendlichen sowieso kaum möglich ist). Denn bei keinem stimmt die Botschaft, die zu verkündigen ist, mit dem eigenen Wissen und dem eigenen Leben einfach überein. Die Rede war schon von der kindlichen Frage, ob man auf die Hostie beißen darf. Wie viel an Unsicherheit, Ungeklärtem und Angezweifeltem verbirgt sich da oft im Hintergrund. Das notwendige Wissen kann man vielleicht mit ein bisschen Information liefern. Aber für den Fortschritt des inneren Lebens ist mehr nötig. Und in der gemeinsamen Vorbereitungsrunde der Katecheten kündigt sich die Situation des Suchens oft nur ganz vorsichtig an (zum Beispiel: „Ich habe schlechte Erinnerungen an meine erste Beichte“). Wenn der Leiter der Runde – ganz vorsichtig – darauf eingeht, kann es passieren, dass die Lebenssituation von vielen Beteiligten plötzlich transparent wird. Das allein kann schon eine beglückende Erfahrung sein. Man ist mit seiner Hilfsbedürftigkeit nicht allein.

Und dann wird manchmal ein genauso schöner gemeinsamer „Durchblick“ möglich. Und dabei haben mehrere dazu beigetragen, die „Suche“ zu verdeutlichen, und mehrere hatten die Gabe, die Gruppe zu „beseelen“.   

 

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