32. Der Gemeindeleiter ist auch nur ein Mensch.

Als ich vor einigen Jahren in den Ruhestand ging, war es sehr schwer, den Menschen in der neuen Umgebung den „Herrn Pfarrer“ abzugewöhnen. Auch nach einigen Jahren konnte es immer noch passieren, dass jemand „Herr Pfarrer Staßen“ sagte. Irgendwann habe ich dann nur noch geantwortet: „Ich habe einen Namen, ich brauche keinen Titel.“ Und als ich dann 2017 nach Hochdahl (in die Seniorenwohnanlage) zurückkehrte, wurde ich immer mit meinem Namen angeredet, wenn ich Leute aus der Gemeinde traf  – mit wenigen Ausnahmen.  Das haben wir gut hinbekommen, habe ich mir gedacht. Das begann 1972. In dem Jahr haben wir mit Einverständnis von Generalvikar Nettekoven beschlossen, dass das Team als Ganzes die Leitung der Gemeinde übernehmen sollte (vgl.Nr.20, Team 2). Dadurch fiel die Differenzierung in Pfarrer, Kaplan und Diakon weg. Und deshalb war es dann auch nicht mehr möglich, diese Titel in der Anrede zu benutzen. Der Name genügte. – Warum ist die Titulatur im Klerus der Kirche nach wie vor so selbstverständlich? Und wie will man bei dieser Praxis verhindern, dass der Geistliche doch wieder im Heiligenschein erscheint? – Ich vermute, dass diese Gewohnheit der Intention des Neuen Testaments widerspricht. Zumindest an einer Stelle wird das ausdrücklich gesagt. In Mt 23,8-10 heißt es: „Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder. Auch sollt ihr niemand auf Erden euren Vater nennen; denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel. Auch sollt ihr euch nicht Lehrer nennen lassen; denn nur einer ist euer Lehrer, Christus.“ Wenn man diese Anweisung ernst nimmt, weiß ich nicht, wieso allenthalben in der Kirche Titel, Amtsbezeichnungen und Ehrenerweise eine solche Rolle spielen. – Die  Entscheidung in dieser Frage ist nicht nebensächlich, wenn es um eine brüderliche Gemeinde geht. In einer solchen Gemeinde ist nämlich jedes Mitglied gleich wichtig. Und die Gemeinschaft wird lebendig, wenn jeder seine ihm eigene Fähigkeit, die ihm geschenkte Gabe des Geistes, im Dienst an den Anderen verwirklicht. Und dann stört es, wenn einer ein besonderer Bruder ist. 

 

„Ihr alle aber seid Brüder“. Wir, die Gemeindeleiter, haben uns die ganzen Jahre hindurch als Mitglieder der Gemeinde erlebt und interpretiert. Wir hatten nie die Vorstellung, außerhalb der Gemeinde zu stehen. Und wir waren nie der Meinung, würdiger, besser oder gar heiliger als die Anderen zu sein. Ab und zu tauchte bei älteren Leuten zwar noch die Erwartung auf, die Geistlichen müssten doch eigentlich das – vorbildhaft – leben, was der normale Sterbliche nicht kann. Diese Vorstellung habe ich aber nie übernommen. Ich konnte weder die darin enthaltene Ehrerbietung schätzen noch die geforderte Untadeligkeit leisten. – Im 10. Kapitel der Apostelgeschichte wird erzählt, dass der Hauptmann Cornelius sich vor Petrus zu Boden wirft. Und Petrus hebt ihn auf mit dem Satz: „Auch ich bin nur ein Mensch“. Als das wieder einmal vorgelesen wurde, erzählte jemand hinterher, er habe im Fernsehen gesehen, wie sich der neu ernannte Kardinal vor dem Papst niedergekniet habe. Er hätte sich gewünscht, der Papst hätte das verhindert mit der gleichen Bemerkung: „Auch ich bin nur ein Mensch“. – Auch in der Verkündigung sind wir davon ausgegangen, dass unsere Lebenssituation grundsätzlich die gleiche ist wie die der anderen Glaubenden. Wenn ein Prediger so tut, als habe er alle Lösungen in der Tasche und brauche sie nur hervorzuzaubern, dann ist er unglaubwürdig. Es kann auch nicht richtig sein, die ewigen Wahrheiten so zu formulieren, als ob sie im eigenen Leben schon verwirklicht würden. Der Verkündiger steht nicht über den Anderen, gewissermaßen neben dem Throne Gottes, und schaut von oben herab auf die Niederungen des einfachen Volkes. Wenn schon „Niederungen“, dann steckt er genauso im Sumpf wie alle anderen. Das bedeutet auch, dass in der Verkündigung die Unsicherheit des Glaubens und die Grenzen der menschlichen Erkenntnis vorkommen müssen. Keiner hat Gott je gesehen (Joh 1,18). Und wenn das „Wort“ uns Kunde gebracht hat, dann ist das eine Sache von Glauben und Vertrauen diesem Jesus Christus gegenüber und nicht von Beweisen im üblichen Sinne. Und wir haben auch keine Möglichkeit, über die Todesgrenze hinauszugreifen und diese Not belastet alle Glaubenden. Der Prediger muss aus seinem Leben heraus versuchen, die Balance zu halten zwischen der Verkündigung des Lebens und der Realität dieser Hinfälligkeit. Wenn er sich selbst immer wieder dieser Spannung aussetzt, kann das für die Hörer zur Ermutigung werden. Wir alle haben für unser Leben dieselben Bedingungen und wenn man das verschweigt, hilft das keinem.    

 

Wir wollten und konnten immer mit der Gemeinde leben. Man kann zwar auch als „Pfarrherr“ seinen Platz in der Pfarrei finden. Aber uns war es wichtig, in einem Geflecht von Beziehungen mit den Menschen verbunden zu sein und Belastungen und Hoffnungen miteinander zu teilen. Das ergab sich sicher auch aus dem grundlegend menschlichen Bedürfnis nach Geborgenheit und Beheimatung. Aber in der heutigen Situation der Großpfarreien ist eine der größten Gefahren,  dass Geistliche zu Funktionären werden, wenn sie keine unmittelbare Anbindung an eine überschaubare Gemeinschaft von Glaubenden mehr haben. Warum ist die vertrauensvolle Gemeinschaft zwischen Gemeinde und Gemeindeleiter verdächtig? Warum soll es gut sein, dass der Geistliche seine Stelle wechselt, wenn er anfängt, sich an einem Ort wohl zu fühlen? Warum muss der alt gewordene Mensch seine vertraute Umgebung verlassen, wenn er in den Ruhestand geht? Die zugrundeliegende  Ideologie muss auf den Prüfstand!

 

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