29. Eine Gemeinde erkennt ihre Würde

Manchmal kamen Leute aus dem Urlaub nach Hause und meinten: „Och, was sind wir froh, dass wir in Hochdahl leben.“ Und dieser Spruch war die Folge ihrer Erfahrung beim Gottesdienst an ihrem Urlaubsort. Oder man traf sich bei einer Wochenendveranstaltung mit Mitgliedern anderer Pfarreien und war entsetzt über deren Ansichten. Es stimmt schon, dass wir stolz waren auf das kirchliche Leben in Hochdahl.

 

Bei vielen derartigen Bemerkungen haben wir aber auch versucht, uns gegenseitig auf den Teppich herunterzuholen. Weil die Gefahr eben groß ist, dass man sich etwas einbildet. Und wenn man nur stolz ist auf die eigene Leistung, fällt alles bald in sich zusammen. Und natürlich meldet sich da auch der Apostel Paulus zu Wort, der davor warnt, mit den eigenen Fähigkeiten oder Erfolgen anzugeben. „Denn nicht, wer sich selbst empfiehlt, ist bewährt, sondern der, den Gott empfiehlt.“ Es ist nicht leicht, den Weg zwischen falscher Bescheidenheit und Arroganz zu finden. Vielleicht muss man prüfen, wie viel Dankbarkeit in dem Selbstbewusstsein vorhanden ist – Dankbarkeit für das, was uns auf dem gemeinsamen Weg geschenkt worden ist. Deshalb lautet die Überschrift nicht: Eine Gemeinde entwickelt Selbstbewusstsein, sondern: sie erkennt ihre Würde. Denn diese Würde kann man sich nicht erarbeiten oder verdienen, diese Würde ist Gabe und Geschenk. Sie wird in dem Maß verliehen, wie man sich der Zuwendung Gottes bewusst wird. Glaubende Erkenntnis verleiht Würde.

 

Diese Würde macht frei, sie relativiert Abhängigkeiten.

 

Wir sind gegenüber dem Bischof und seiner Diözesanleitung selbstbewusst aufgetreten. In der ersten Zeit des Hochdahler Gemeindeaufbaus brauchte das nicht zum Konflikt zu führen, weil eine erfreuliche Übereinstimmung in den Vorstellungen und Plänen bestand. – Als wir 1975 „Ave Eva“ gesungen haben, versuchte der Generalvikar im Auftrag von Kardinal Höffner, uns die Aufführung zu verbieten. Er wurde mit einer Flut von Protestbriefen überschüttet, so dass er herablassend meinte, er könne ja für die Beantwortung der Briefe eine extra Kraft einstellen. Wir waren in diesem Fall der festen Überzeugung, dass wir besser über Inhalt, Sprache und Musik dieses Stückes Bescheid wussten als der vom Bischof Hermann Volk von Mainz mit der Bewertung Beauftragte. Denn wir hatten uns für das Neue mit Begeisterung geöffnet und das Stück intensiv einstudiert. – Derartige Konflikte gab es immer wieder. Dabei spielte sicher auch ein gutes Stück temperamentbedingte Aufmüpfigkeit eine Rolle. Aber es war mehr noch die Überzeugung, dass nicht der Bischof oder sonst ein Würdenträger die Wahrheit gepachtet hat, sondern dass wir alle gemeinsam dem Maßstab des Neuen Testaments verpflichtet sind. Heute vertreten wieder manche die Position, der Bischof habe zu bestimmen und im Notfall sei sogar Denunziation gefordert. Nach diesem verbindlichen Maßstab ist das eindeutig falsch.

 

An dieser Stelle hören Priester dann oft: „Aber Sie haben doch dem Bischof Gehorsam versprochen“. Da ist es dringend nötig zu fragen, was für einen Gehorsam man denn meint. Und ich befürchte, dass in vielen Fällen ein militärisches Bild im Hintergrund lauert. Kardinal Meisner hat in den ersten Jahren als Bischof von Köln davon gesprochen, dass er sich unter den Priestern einen „Chorgeist“ wünscht. So geschrieben kann man annehmen, dass das eine Wirkungsweise des Heiligen Geistes ist. Erst nach einiger Zeit kam ich dahinter, dass man dieses Wort vielleicht anders schreiben muss, nämlich „Corpsgeist“. Auch der Geist im Offizierscasino hält die Truppe ja zusammen. Aber militärische Bilder und Handlungsweisen decken sich ja nun wirklich nicht mit der Botschaft Jesu. Auffällig ist allerdings, dass selbst im Neuen Testament relativ häufig militärische Bilder benutzt werden, zum Beispiel wird das gläubige Bemühen mit einem „Kriegsdienst“ verglichen und die Tugenden sind die verschiedenen Teile einer Rüstung. Ich bin zwar nicht sicher, aber ich glaube nicht, dass ein solches Bild in der Verkündigung Jesu vorkommt. In der Kirchengeschichte sind dann nicht nur kriegerische Bilder benutzt worden, sondern man hielt sich für berechtigt, kriegerisch zu handeln – natürlich im Dienst des Glaubens. Und als in der  jüngeren Vergangenheit die Vorbehalte gegen die Kirche zunahmen, meinten gewisse Kreise, die Kirche müsse mit der Geschlossenheit einer Phalanx – einer Schlachtreihe – auftreten. Treffen solche Vergleiche die Realität der Kirche, dann braucht sie natürlich auch eine klare Befehlsstruktur samt der Möglichkeit, uneingeschränkt von oben nach unten durchzugreifen. Und dann ist der Oberbefehlshaber der eigentlich Bestimmende und allein Verantwortliche. Soll ein Priester in diesem Rahmen und auf Grund einer solchen Mentalität gehorsam sein? Dazu habe ich mich nie verpflichtet gefühlt und ich halte eine solche Forderung für nicht erlaubt!

 

Eigentlich müsste es doch selbstverständlich sein, dass eine Gemeinde eine Würde hat, die nicht angetastet werden darf. Und wenn wir uns als Gemeinde Jesu Christi verstehen, ist diese Würde jedem Glaubenden eigen, vom stillen Beter in der letzten Bank bis zum Papst. Und dann sind die hier formulierten kritischen Anmerkungen notwendig. Schwierig wird es, wenn unterschiedliche Meinungen oder Wertungen zum Konflikt führen. Wir sind gewöhnt, dass solche Konflikte per Machtwort gelöst werden, dem man dann unter Umständen mit Verweigerung antwortet. Wie wäre es, die Lösung in einem Gespräch mit gegenseitigem Vertrauen zu suchen? Das fordert vor allem den Verzicht auf die Vorstellung von der Kommandostruktur. Und die übliche Praxis, dass der Delinquent (Priester) „zitiert“ wird und zu seiner Verteidigung oder Aburteilung erscheinen muss (und die Urteilenden sind dabei zu zweit!), ist unwürdig, und zwar für beide Seiten. Man könnte ja auch verabreden, sich zu einem Gespräch zu treffen, um über das aufgetauchte Problem zu reden. Und wie wäre es, wenn dazu der Weihbischof sich ins Auto setzen würde, um zu diesem Gespräch zu fahren? Eine verrückte Idee? – Oder wenn es nicht um den Leiter der Gemeinde geht, sondern um die Gemeinde selbst. Was macht eine Gemeinde, die sich ihrer Würde bewusst wird, wenn das dem Bischof nicht gefällt? Der könnte ja auf die Idee kommen, dass diese Gemeinde nicht mehr wirklich katholisch, ja dass sie vielleicht sogar evangelisch ist. Er sähe sich dann vielleicht gezwungen, jemanden zu schicken, der diese Gemeinde wieder auf den rechten Weg zurückbringt. Und das wäre die Lösung? Wenn wir nicht eine Teilgruppe der Gesellschaft, sondern wirklich die Gemeinde Jesu Christi sein wollen, gibt es noch viel zu tun. Wir dürfen auf keinen Fall die Hoffnung aufgeben!

 

Die Würde befähigt die Gemeinde, die Abhängigkeit von der Gesellschaft zu relativieren. Das Konzil hatte eine große Offenheit für die Belange der Menschen in der Welt von heute. Und auf diese Offenheit reagierten viele mit Interesse und vertrauensvoller Erwartung. Zu dieser Zeit war die Kirche dazu in der Lage, weil das Konzil sich eindeutig auf die Wurzeln der christlichen Botschaft besonnen hatte und den Auftrag Jesu ins Zentrum stellte. Wenn wir begreifen, was uns als Aufgabe anvertraut ist, haben wir keinen Grund, hinter der Gesellschaft her zu laufen und um ihre Gunst zu buhlen. Inzwischen hat der Abbruch der Kirchlichkeit hierzulande ein solches Ausmaß angenommen, dass die Angst umgeht, man habe in dieser Welt und in dieser Gesellschaft nichts mehr zu sagen. Die Reaktionen sind zum Teil recht eigenartig. Da sucht man nach einer Nische für die Vorbereitung auf die Erstkommunion, obwohl die Mehrheit der katholischen Eltern dieses Fest – aus welchen Gründen auch immer – noch will. Da meint ein Kirchenvorstand bei der Umgestaltung der Grundschule zur „Offenen Ganztagsschule“ eifrig mitmachen zu müssen, obwohl es die Gemeinde den gut laufenden Hort kostet. Man will doch nicht, dass der Zug ohne einen selbst abfährt. Da soll sich eine Gemeinde auf dem Handwerkermarkt darstellen. Und die gut aufgemachte Zusammenstellung der Ostergottesdienste soll von vielen Gläubigen in viele Briefkästen, Vereine und Arztpraxen getragen werden. Die Krise der Kirche heute ist sicher schwer und die richtigen Antworten zu finden, macht Mühe. Aber so billig sollte man sich trotzdem nicht verkaufen.

 

An dieser Stelle muss auch die hoch gehandelte und immer für wichtig gehaltene Öffentlichkeitsarbeit auf den Prüfstand. Wenn man nicht mag, dass der Bericht über das Pfarrfest unmittelbar neben der Leistungsschau des Kaninchenzuchtvereins erscheint, dann ist das vielleicht etwas hochmütig. Aber wenn Reklame nur deutlich machen soll, dass man auch noch da ist, dann ist das sicher zu wenig. Es ist nicht leicht, in einem Bericht über ein kirchliches Ereignis durchscheinen zu lassen, worin das Besondere christlichen Lebens besteht. Aber davon schweigen, das darf man auch nicht.

 

Eine Gemeinde, die sich ihrer Würde bewusst ist, wird nicht dem Trend nachjagen. Das mussten wir in Hochdahl oft deutlich machen. Denn was alle tun, scheint manchen Leuten ein durchschlagendes Argument zu sein. So haben wir es zum Beispiel erfahren, wenn es um den schon ausführlich beschriebenen Konflikt um die Reihenfolge von Kommunion und Buße ging. Wie oft mussten wir uns da anhören, dass es aber überall sonst anders gehandhabt würde als in Hochdahl. Eigenständigkeit ist angreifbar!   

 

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