3. Eine große Sache

Im Jahre 1968 begann im großen Stil der Aufbau der neuen Stadt Hochdahl. Die Entwicklung der Bautätigkeit vollzog sich unheimlich rasant. Innerhalb von wenigen Monaten entstanden hunderte neue Wohnungen. Und mit einem entsprechenden Tempo schoss die Zahl der neuen Bewohner in die Höhe. … Zunächst waren es vor allem die beiden östlichen Wohnbereiche Willbeck und Millrath-Ost, die in einer gemischten Bebauung von Hochhäusern und  Reihenhäusern errichtet wurden. In Sandheide entstand das so genannte „Individualbaugebiet“ – vorwiegend Bungalows und Reihenhäuser in der Sandheider Straße – und eine „verdichtete“ Bebauung an der Schildsheider Straße. Es waren vor allem junge Familien, die nach Hochdahl kamen. Natürlich wurden die zunächst Zuziehenden mit den gleichen Erfahrungen konfrontiert, die von allen Neubaugebieten bekannt sind: unfertige Straßen, Baufahrzeuge, Baulärm – und schmutzverkrustete Schuhe vor den Eingängen. Aber bei dem hohen Tempo des Baufortschritts konnten die Neubürger die Hoffnung haben, dass sie bald in einer angenehmen Umgebung leben würden. Das war auch einer der Gründe für den zügigen Aufbau. Ich erinnere mich an einen Ausspruch des Stadtplaners Professor Machtemes, man könne den Leuten nicht zumuten, jahrelang in einem Provisorium zu leben. Es war eben eine große Sache, was in Hochdahl verwirklicht werden sollte.

 

Viele, die in den ersten Jahren in Hochdahl zuzogen, kamen mit einer hohen Motivation. Das ist wohl immer die Voraussetzung, wenn man die bisherigen bekannten und vielleicht auch liebgewordenen Lebensbedingungen verlässt und in eine neue und unbekannte Umgebung zieht. Aber in Hochdahl ging es nicht  nur darum, das neue Haus und die Wohnung zu gestalten, eine neue Beziehung zu Nachbarn aufzubauen und den Weg zu Kindergarten, Lebensmittelgeschäften, Ärzten und Apotheken zu finden. In Hochdahl mussten die Neubürger gleichzeitig eine neue Stadt aufbauen. Bezieht man zum Beispiel heute in Gerresheim hinter der B7 eine Wohnung in einem Neubaugebiet, dann begibt man sich in einen Rahmen, bei dem fast alles vorbereitet und festgelegt ist. Die Geschäfte, Schulen, Kirchen und das Krankenhaus sind schon da und man braucht sich bloß einzupassen. Das ist bequem oder zumindest entlastend, aber es gibt keine Möglichkeit mehr, neue Lebensformen für sich selbst und das Leben mit andern auszuprobieren. Die neue Stadt Hochdahl wurde – fast – auf der grünen Wiese gebaut. Ganz am Anfang gab es nur ein paar (provisorisch untergebrachte) Lebensmittelläden, einen Laden für Hausrat, ein paar (neue oder alteingesessene) Ärzte, Schulen im Aufbau. Und der Rest war – Offenheit, Möglichkeiten, Nichtfestgelegtes. Und bei den Neubürgern gab es viele Wünsche, Vorstellungen, Gestaltungsvorschläge und vor allem ganz viel innerer, seelischer Platz. Ich vermute, dass das die große Chance Hochdahls war, dass es keine ideologische oder pseudotraditionelle Festlegung gab, wie das Zusammenleben in dieser Stadt auszusehen hätte. Viele Neubürger haben vermutlich diese seltene Chance gespürt und waren bereit, sich nicht nur um ihre privaten Belange zu kümmern, sondern miteinander eine Stadt aufzubauen, in der man menschlich leben kann. Viele Impulse und viel Unterstützung für solche Einsatzbereitschaft kamen im Laufe der Jahre von der Entwicklungsgesellschaft, den städtischen Gremien, dem Bürgerverein, dem sehr aktiven Sportverein TSV, und sicher auch von den Kirchengemeinden. Auch und gerade dieser innere Aufbau der neuen Stadt war für viele Beteiligte eine große Sache.    

 

Es gab auch innerhalb des Baugebiets der neuen Stadt Hochdahl alte Wohngebiete: das schon erwähnte alte Hochdahl (das in der neuen Stadt dann Alt-Hochdahl hieß), Trills und Millrath.

Diese Siedlungen hatten eine dörfliche Struktur und weder die Größe noch das Selbst-bewusstsein oder die prägende Kraft wie zum Beispiel das oben erwähnte Gerresheim. Sie konnten deshalb nicht ihre Lebensgewohnheiten oder Vorstellungen zum Maßstab für die neue Stadt  machen. Das hat in den ersten Jahren immer wieder zu Reibereien und Konflikten geführt. Meist waren Kleinigkeiten der Anlass. Sollte dieses oder jenes alte Gebäude abgerissen werden, weil es nicht in die Konzeption der neuen Stadt passte? Oder musste es nicht gerettet werden, weil man doch nicht alles Alte beseitigen kann? Sollte man deshalb nicht besser die geplante Straße verändern und um den alten Bau herumführen – auch wenn das ein Hindernis für den Verkehrsfluss bedeutete? Von heute her gesehen scheint es, dass sich in diesem vielfältigen Streit um konkrete, kleine Veränderungen eine viel grundlegendere Problematik äußerte: wenn man eine neue Stadt in ein alte Landschaft hineinbauen will, bringt das die Zerstörung alter Bilder, vertrauter Gegenstände und liebgewordener Sicherheiten mit sich. Oft hörte man in den ersten Jahren, wie schön man früher zwischen Hochdahl, Haan und Gruiten wandern konnte – da, wo jetzt die neue Stadt gebaut wird! Und die Sedenquelle, wohin sich früher junge Leute auf den Weg machten! Und das gute Wasser am Ort, das doch viel besser war, als was man aus Wuppertal geliefert bekam! Das Neue, Ungewohnte hat es oft schwer, weil so viele am Hergebrachten festhalten möchten. Und dieses Bedürfnis ist oft unabhängig davon, wie wertvoll das Alte ist. Man möchte nicht verzichten oder man möchte keinen Verlust verarbeiten müssen.

 

Es ist nicht verwunderlich, dass sich viele solcher Querelen gegen das Konzept und den konkreten Aufbau der neun Stadt Hochdahl richteten. Ob das nur eine Sache von Stimmung und Gerede war oder ob dabei ernste Probleme eine Rolle spielten, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, welche konkreten Hintergründe den neugewählten Gemeinderat zu seiner Entscheidung veranlasst haben: er beschloss jedenfalls im Jahr 1972, den Stadtplaner Professor Aloys Machtemes zu entlassen. Sein Aufbaukonzept für die neue Stadt Hochdahl konnte glücklicherweise zu diesem Zeitpunkt nicht mehr grundlegend verändert werden. Und durch all die Jahre ist diese Stadt von den neuen Bewohnern wirklich angenommen worden.

 

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