36. In der Gemeinde liegt die Zukunft

Die Krise der Kirche in Deutschland ist offensichtlich. In der Wahrnehmung der deutschen Bischöfe scheint sie sich vor allem im Priestermangel zu manifestieren. Dementsprechend suchen sie auch die Lösung über die Rolle des Priesters. Die Größe der Bereiche der Seelsorge wird der schwindenden Zahl der Priester angepasst. Je weniger Priester umso größer die Seelsorgsbereiche. Und inzwischen ist an vielen Stellen deutlich, dass dieses System  nicht funktioniert. Und dieser Versuch belastet und erschwert, was an Lebensäußerungen in den Gemeinden noch vorhanden ist.

 

Sollten wir nicht stattdessen mit der Erneuerung der Gemeinde beginnen? Und dabei halten wir uns am besten an die Vision, die Paulus hat (und über die in Nr.13 „Die Gaben des Geistes“ schon ausführlich gesprochen worden ist). „Es gibt verschiedene Gnadengaben, aber nur den einen Geist. Es gibt verschiedene Dienste, aber nur den einen Herrn. Es gibt verschiedene Kräfte, die wirken, aber nur den einen Gott: Er bewirkt alles in allen.“ (1 Kor 12, 4 – 6)  Die Fähigkeiten, Kräfte und Dienste des Gläubigen sind demnach nicht Privatsache oder ein Ergebnis von Erbe und Veranlagung. In einer geradezu hymnischen Sprache betont Paulus, dass Gott der Urheber und Geber ist: ein Geist – ein Herr – ein Gott. Und Gott teilt jedem (!) seine besondere Gabe zu, wie er will (Vers 11). Man sollte sich einmal seiner Phantasie überlassen und sich vorstellen, welche Fülle des Lebens in jeder Gemeinde angelegt ist. Und wie in einem Film sollte man einmal die vielen Gesichter der Gemeindemitglieder, die man kennt, an sich vorbei ziehen lassen. Und in jedem dieser Menschen stecken noch ungeahnte verborgene Schätze – Fähigkeiten, Hoffnungen, Bereitschaft. Sie können nur sichtbar werden und sich entwickeln, wenn im gegenseitigen Dienen die Gaben des Geistes geweckt werden. Wie kommt es, dass dieser Weg als Möglichkeit zu einer lebendigen Kirche nicht ernsthaft zur Debatte steht? Wie kommt es, dass die Gaben, die doch Gaben Gottes sind, im Leben der Kirche (fast) nirgendwo eine Rolle spielen? Ob es vielleicht auch daran liegt, dass man immer von „Charismen“ gesprochen hat? Und Charismen wurden nicht als Wirkung des Geistes Gottes im Leben des Getauften interpretiert, sondern als „Begabung“ und Ergebnis von Vererbung. Wir werden bei dem Bemühen um diese verborgene Vielfalt zwar nicht den Himmel auf Erden erreichen, aber sicher kann der Geist Jesu im Leben der Gemeinde seine verwandelnde Kraft erweisen.

 

Bei diesem Erneuerungsprozess kommt den Seelsorgern in den Gemeinden eine Schlüsselrolle zu. Sie müssen die verborgenen Schätze ans Tageslicht bringen. Die Frage ist allerdings, wie viel Kraft und Energie den heutigen Seelsorgern noch bleibt. Viele sind ja durch die Organisation und die Logistik in den Großbereichen jetzt schon bis über ihre Kräfte gefordert. Ein weiteres Hindernis entsteht, wenn in einer Pfarrei von 20.000 Katholiken alle vorhandenen Seelsorger für den gesamten Seelsorgebereich zuständig sein sollen. Dann kann diese Konzeption nicht funktionieren. Denn das Wecken der Gaben setzt voraus, dass man sich kennt und miteinander im Gespräch ist. Auf dem Weg über öffentliche Ausschreibungen kann das nicht glücken. Das bedeutet, dass der Raum für diese Erneuerung die alte Pfarrei, die überschaubare Gemeinde ist. Nach den Erfahrungen, die wir in Hochdahl mit dem Wecken der Gaben des Geistes gemacht haben, ist die Vorbereitung auf den Empfang der Sakramente eine große Chance. Bei Kommunion und Buße begegnet man den Eltern der Kinder. Und bei denen sind viele gottgegebene Fähigkeiten vorhanden – oft im Verborgenen und unentdeckt, ebenso bei den Jugendlichen, die sich auf die Firmung vorbereiten. Wenn eine Gemeinde diese Aufgaben wahrnimmt und viel Zeit und Kraft und Glaubenssinn investiert, dann kann auch heute noch der Glaube lebendig werden und Freude bereiten.

 

Was die Leiter der Gemeinde bei diesem Erneuerungsprozess tun, ist ein Dienst. Die Gabe der Leitung ist wie alle anderen Gaben dazu gegeben, damit sie anderen nützt. Sie dient dem Aufbau des Lebens der Gemeinde. Und dabei können ganz neue Formen des Dienens sichtbar werden.

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  • Es ist eine Form des Dienens, die Gaben des Geistes in der Gemeinde zu erkennen. Was schon gelebt wird, springt natürlich ins Auge. Aber es gibt sehr viele verborgene Gaben, die nur deshalb nicht wirksam werden, weil keiner sie zu finden versucht. Zukunft der Kirche? Auf die verborgenen Gaben der Gläubigen setzen! 
  • Es ist eine Form des Dienens, andere zu ermutigen, ihren Gaben und vor allem dem Geber zu trauen. Es kann eine wunderbare Erfahrung sein, wenn in der Kommunionvorbereitung so etwas geschieht: eine Frau traut sich nicht zu, im Gottesdienst mit Kindern ein kleines katechetisches Gespräch zu führen. Sie wird von andern Eltern ermutigt. Sie überspringt ihre Angst, sie riskiert es. Hinterher ist sie ganz stolz und dankbar: „es ging viel besser als ich gedacht habe!“
  • Es ist eine Form des Dienens, danach zu suchen, welche Gabe man selbst für die Gemeinde empfangen hat. Man kann Angst und Müdigkeit und Gleichgültigkeit überwinden, wenn man erkennt, wie wichtig das Eigene (und kein anderer hat das genau so wie ich) für das Leben der Gemeinschaft ist. Und mir ist diese Gabe nicht geschenkt, weil der Pastor sonst überlastet ist. Sie ist mein ureigener Anteil und meine unersetzlich Rolle im Leben der Gemeinschaft. 
  • Es ist eine Form des Dienens, Leitungsaufgaben zu übernehmen, nicht um zu glänzen und zu dirigieren. Aber die Gemeinde braucht Menschen, die tragen, aushalten, Mut machen, vertrauen, sich krumm legen. Und Gott sollte der Gemeinde nicht solche Menschen gegeben haben? 

 

Wenn wir uns um das Bild bemühen, dass Gott uns durch seine Gaben anvertraut hat, dann wird jeder Glaubende und jede Gemeinde ihr eigenes Gesicht bekommen. Man muss sich natürlich fragen, ob das für die „normalen“ Verantwortlichen in der Kirche eine verlockende Perspektive ist. Damit würde sich die Gemeinde ja der üblichen oberflächlichen Normierung durch Sätze und Vorschriften entziehen. Und es dürfte nicht leicht sein, einer solchen Vielfalt und Lebendigkeit gerecht zu werden. Eine Gemeinschaft, die nach dem Geist Jesu zu leben versucht, lässt sich nicht so leicht unter die Herrschaft irgendwelcher menschlichen Autoritäten zwingen. Aber es gilt doch wohl noch, dass in der Kirche der Wille Gottes die letzte Norm ist – des Gottes, der sich offenbart hat und durch seinen Geist auch heute am Werk ist!

Wenn die Gläubigen ihre Gaben entdecken und im gemeinsamen Leben wirksam werden lassen, dann wird die Gemeinde lebendig und attraktiv. Und die Anziehungskraft dieser Gemeinde wird andere Mitglieder motivieren, sich ihrerseits wecken zu lassen. Lebendige Christen in einer lebendigen Gemeinde!

 

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